Januar 2022
Liebe Leserinnen und Leser,
wenn ihr als Elternteil oder Bezugsperson die Fürsorge für so manch einen Rabatzmacher übernommen habt, dann seid ihr genau wie ich mit der dazugehörigen Trotzphase vertraut. Bei manchen Kindern ist sie weniger, bei manchen stärker ausgeprägt.
Wenn ihr diese als besonders anstrengend empfindet und euch ein Trotzanfall des Kindes so manches Mal an den Rand eurer Grenze gebracht hat, dann kann ich das gut nachvollziehen. Ihr bekommt mein volles Mitgefühl.
Dieses Buch gibt euch allerdings keine professionellen Erziehungsratschläge, die euch sagen, was ihr in verzwickten Situationen am besten tun könnt. In der Kindererziehung bin ich häufig an mein Limit gestoßen, habe vor mich hin geheult, bin der Verzweiflung nahe gewesen und habe am Ende festgestellt, dass es am leichtesten ist, den Familien-Alltags-Wahnsinn mit Humor zu akzeptieren.
Wenn ihr den Tag überlebt und kein Kind ausgesetzt habt, dann habt ihr schon so gut wie alles richtig gemacht. Vielleicht fehlt euch zu dieser Einstellung noch ein kleiner Dachschaden, der euch die Grenze erweitern kann. Wenn ihr euch von dem löst, was ihr als normal betrachtet, könnt ihr es in eurem Irrenhaus zu Hause möglicherweise besser aushalten und findet einen Weg, mit euren Kindern mehr zu lachen und noch mehr Spaß zu haben. Denn Kindermund ist so originell wie jedes einzelne Individuum, das es verdient, glückliche Eltern oder Bezugspersonen zu haben.
Aber auch, wenn ihr ein rundum zufriedenes Familienleben führt, keine schwierigen Trotzanfälle kennt und nur selten genervt seid, weil ihr immer noch rechtzeitig die Kurve kriegt, dann freut euch trotzdem auf die aberwitzigen Dialoge, auf die nur Kleinkinder und durchgeknallte Personen kommen können.
Glücklicherweise bin ich selbst mit Dachschaden angesteckt worden. Mein Ziel ist es nun, alle meine Leser nach dem Schneeballprinzip zu infizieren.
Lasst euch auf eine lustige Reise ein! Der Weg führt nicht ohne Grund durch den Kindergarten.
Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen!
Eure Valerie Schussel
Hallo. Mein Name ist Valerie Schussel. Ich bin eine deutsche Bürgerin, die sich gewissenhaft an Vorschriften hält, um keinen Ärger zu kriegen. Ich lebe mit meinem Mann Freddy und meinen beiden gesunden Kindern Nicolas und Sophie in einer gewöhnlichen Doppelhaushälfte in einer Vorstadt von Köln. Ich bin meinem Mann treu. Mir ist es wichtig, was andere über mich denken. Sie sollen gut über mich denken.
2014 war das Glücksjahr meines Lebens: Ich kündigte meinen Job, fand nahtlos einen neuen, zog mit Freddy zusammen und ließ mich von ihm schwängern. Ich wurde gefeuert und hatte alle Zeit der Welt, mein Leben neu zu sortieren. Freddy war der perfekte Begleiter. Wir verlobten uns im Urlaub im gegenseitigen Einvernehmen, kauften ein Haus, renovierten es, zogen ein, feierten unsere Traumhochzeit in einem Schloss um die Ecke und an Weihnachten wurde unser Sohn Nicolas geboren – gerade rechtzeitig, bevor das Glücksjahr zu Ende ging. Im Jahr 2014 lief alles nach Plan, nämlich eine typisch deutsche Durchschnittsfamilie zu werden, die zwei Jahre später an Silvester mit unserer Tochter Sophie vollständig wurde.
Und hier stehen wir nun als Vierergespann, das den Alltagswahnsinn meistern will, indem jeder von uns in eine andere Richtung zieht, was nicht selten katastrophale Auswirkungen hat. Dabei stellt sich mir immer wieder die Frage, wie ich alles richtig mache, um die Harmonie zu erhalten. Werde ich die Antwort finden? Auf dem Weg dorthin werde ich auf jeden Fall an meinen Aufgaben wachsen, sodass die blöde Mama aus Sicht des kleinen Jungen am Ende vielleicht doch noch lieb wird.
Nicolas entpuppte sich in seiner frühen Kindheit als Sensibelchen, das Angst vor Männern hatte. Wenn ein Handwerker an der Tür klingelte, rettete er sich in meine Arme und versteckte sein Gesicht in meinem Shirt. Männer mit Bart hatten erst recht keine Chance, den Anflug eines Lächelns zu erhaschen. Unser einzig Barttragendes Familienmitglied hieß Opa Bernhard, der es anfangs ebenso wenig leicht mit ihm hatte.
„Hab mir wieder meinen Bart abrasiert, dass der kleine Nico keine Angst vor mir haben braucht“, erklärte mein Schwiegerpapa. „Nönönönö?“, kasperte er liebevoll mit Nicolas und stupste mit seinem Zeigefinger auf seine Nase.
Dabei nahm Bernhard seinen Enkelsohn auf den Arm, der langsam einen Anflug eines schüchternen Lächelns zeigte.
***
Neben seiner Bartphobie entwickelte Nicolas noch andere seltsame Verhaltensweisen, wie sich im Laufe seiner Kindergartenzeit herausstellte. Das hing nicht zuletzt mit einer besonderen Person im Kindergarten zusammen, die nicht gerade unschuldig war, obwohl sie gern so tat.
Ab hier fängt die eigentliche Geschichte erst an.
August 2017. Nicolas war noch nicht mal drei Jahre alt, als er in den Kindergarten kam. Seine Scheu vor aus seiner Sicht unheimlichen Männern hatte er bis dahin nicht abgelegt. Als wir im Betreuungsvertrag nachlasen, dass seine Bezugsperson aus der Schnattergruppe in der Kita Kindergewusel der einzige männliche Erzieher namens Ben Bär werden sollte, zweifelten wir, ob unser Sohn ihn positiv annehmen würde. Zu allem Übel trug Herr Bär einen Dreitagebart unterm Kinn. Das konnte nicht gut gehen. Hätte ich einen dezenten Hinweis geben sollen? Etwa: „Also, der Opa hat ja seinen Bart immer abrasiert, um Nicolas keine Angst einzujagen. Nur mal so als Tipp, Herr Bär.“
Zum Glück behielt ich meine Gedanken für mich.
Umgekehrt hatte Herr Bär auch einen dezenten Hinweis für mich: „Frau Schussel, lassen Sie Ihre Schuhe doch ruhig an.“
Ich stand in gestreiften Socken im Eingangsbereich der Schnattergruppe und wollte keine Fußspuren hinterlassen.
„Öhm, aber alle Kinder müssen doch Hausschuhe hier im Gruppenraum anziehen?“, erwiderte ich verlegen.
Ich schaute den Erzieher fragend an. Dann wanderten meine Augen zu Boden. Ob seine schwarzen Turnschuhe unter der Sohle sauber oder dreckig waren, konnte ich nicht begutachten.
„Dann sind Sie die Einzige, die sie auszieht. Das macht kein anderer Elternteil“, erklärte mir der Schnattergruppenleiter.
Auf sein Geheiß zog ich mir meine Straßenschuhe wieder an. Woher sollte ich nur wissen, dass für die über Vierjährigen andere Maßstäbe gesetzt wurden?
„Und wie ist es mit Nicolas so?“, wechselte ich das Thema.
Ich ließ meine Augen unmerklich an der Pinnwand im Flur entlangwandern. Wo standen nur die Kita-Regeln, die es zu beachten galt?
„Ja, ganz gut. Er findet sich so langsam bei uns ein“, ertönte die Antwort von Herrn Bär.
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. „Gut“ war die Antwort, die ich brauchte. Dann konzentrierte ich mich weiter auf die Pinnwand. Dort hingen leider nur Fotos der spielenden Schnatterkinder auf dem Außengelände, wohlgemerkt mit spitzen Pinnadeln.
„Wenn davon mal eine aus Versehen runterfällt und ich mit der Socke reintreten würde, …“, redete ich mit mir selbst. „Autsch! Nein! Wie gut, dass ich die Schuhe anbehalten darf. Sicher ist sicher.“
Diese von Herr Bär mündlich vorgetragene Kita-Regel war durchaus angebracht.
Tatsächlich wollte Nicolas gern die ersten paar Stündchen ohne Mama und Papa vor Ort bleiben. Es störte ihn nicht, als ich mich verabschiedete und den Raum verließ. Alles war aufregend und neu für ihn.
Und für mich auch. Bevor es Mittagessen gab, stand ich in Straßenschuhen wieder in der Schnattergruppe. Ich entdeckte Nicolas mit ein paar Kindern am Tisch sitzend und vertieft in ein Steckspiel. Ihn so glücklich zu sehen, ließ mich zweifeln, ob meine Abholung überhaupt richtig war.
„Nicki, räumst du das Spiel noch eben weg? Deine Mama ist da“, wurde er von einer Erzieherin gebeten, als diese mich erblickte.
Ich beobachtete, wie mein Sohn der Anweisung ohne Widerstand Folge leistete, und war entzückt. Ich musterte die Erzieherin von oben bis unten. Sie trug ihre schwarzen Haare zum kurzen Pagenschnitt und ein langes, dünnes Blusenkleid, das bis zu den Knien reichte.
„Entschuldigung. Wie ist noch mal Ihr Name?“, wollte ich von der Kinderexpertin wissen, die sich mir bisher nicht vorgestellt hatte.
„Mein Name ist Hannelore Knallmeier. Für die Kinder kurz Hanni.“
Freundlich schaute sie mich an.
„Frau Knallmeier, okay“, wiederholte ich, um mir den Namen besser einprägen zu können.
Viele Namen von Personen, die ich neu kennenlernte, verschwanden von selbst in meinem nicht vorhandenen Namensgedächtnis. Als wäre da ein schwarzes Loch, das alle Namen einsaugen würde.
„Knall-Meier“, wiederholte ich angestrengt im Geiste, um gegen das schwarze Loch anzukämpfen.
„Übrigens können Sie eine Tupperdose mitbringen, dann geben wir Ihnen das Mittagessen für Nicolas mit, solange er noch nicht zum Essen bleibt. Sie haben es schließlich bezahlt“, sagte sie jetzt.
„Ah, gut zu wissen. Das mache ich dann ab morgen“, erwiderte ich lächelnd.
Nach und nach offenbarten sich mir die Regeln in der Kita. Noch gefielen sie mir sehr gut. Und meinem Mann erst, ha! Der hatte nämlich nur Zahlen im Kopf und wollte bloß nichts umsonst ausgeben. Sowieso fand ich die Kita Kindergewusel von Anfang an hervorragend. Der bisherige Alltag mit zwei unterschiedlich alten Wickelkindern ohne Fremdbetreuung war sehr nervenaufreibend gewesen. Nun zeichnete sich ein bisschen Entspannung ab, auch wenn ich mit der kleinen Sophie immer noch alle Hände voll zu tun hatte.
Dass da allerdings Kita-Regeln auf mich zukommen würden, die ich weniger bis gar nicht nachvollziehen konnte, wenn es zum Beispiel um das Thema Sahne ging, wusste ich zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Vielleicht war es sogar besser so, um mir nicht zu früh den Appetit zu verderben.
***
Mein Handy klingelte.
„Valerie Schussel. Hallo?“, meldete ich mich zögerlich. Was kam denn jetzt auf mich zu?
„Kita Kindergewusel, Knallmeier. Hallo Frau Schussel. Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass Nicolas sich inzwischen so gut bei uns eingelebt hat, dass er spontan zum Mittagessen bleiben könnte. Ist das okay für Sie?“
Für den Bruchteil einer Sekunde rutschte mir das Herz in die Hose. „Wie bitte?“, dachte ich. Diese Info überrumpelte mich ein wenig. Ich hatte nicht erwartet, dass Nico sich so einfach an die Kita gewöhnen würde.
„Das ist doch schön. Das klingt gut“, sagte ich schließlich, weil ich irgendwie auch stolz auf ihn war.
„Dann kommen Sie ihn doch erst so um eins abholen“, lautete der Vorschlag am anderen Ende der Leitung.
„Ja, okay. Dann mach ich das.“
Wir legten auf und ich realisierte erst gar nicht, was gerade passiert war. So viele Wochen und Monate war ich nebst Oma, Opa und Papa Nicos einzige Bezugsperson gewesen. Nun hatte der allererste Abnabelungsprozess begonnen. Mit der Entscheidung, ihn mit unter drei Jahren in den Kindergarten zu geben, hatte ich es mir genauso gewünscht. Es ging ihm gut und es gefiel ihm dort. Die Entscheidung fühlte sich nicht verkehrt an. Aber warum stimmte sie mich trotzdem so melancholisch? Ob es anderen Müttern ähnlich erging?
***
Mittlerweile machte es mich glücklich, dass Nico sich so selbstverständlich in den Kindergarten integriert hatte, als wäre er nie woanders gewesen. Die anfängliche Sorge, was aus seiner Eingewöhnung würde, war umsonst und die Melancholie verflogen.
„Nico, komm, wir gehen nach Hause! Gleich kriegen wir noch Besuch zum Spielen“, lockte ich ihn aus der Schnattergruppe, während ich mich an den Türrahmen lehnte, um auf ihn zu warten.
Mit einer Kopfbewegung signalisierte er mir, dass er mich wahrgenommen hatte. Er räumte seinen Teil des Kindertisches frei und kam auf mich zugelaufen.
„Na, hattest du heute einen schönen Kitatag?“, erkundigte ich mich.
Dabei konnte ich mir nur die eine Antwort vorstellen, vor allem als ich sein schmutziges Gesamtbild betrachtete:
„Ja!“, rief er froh.
„Öh, nanu, du bist ja überall ganz sandig!“, entfuhr es mir.
Was er wohl angestellt hatte?
Inzwischen saß Nicolas auf dem Schuhregal, wo ich ihm die Hausschuhe gegen Straßensandalen wechselte. Statt selbst Hand anzulegen, schmuste er lieber mit seinem Lieblingsschmusetuch namens Hoppel, das ihn am Anfang überallhin begleitete.
„Sogar auf dem Kopf. Hat dich jemand mit Sand beworfen?“, fuhr ich mit der Beschreibung seines Gesamtbildes fort.
Dabei zuppelte ich an seinen blonden Haarsträhnen. Während ich das tat, überlegte ich, wie ich ihn am besten von den hundert kleinen Sandkörnchen befreien konnte. Allein mit den Fingern durchzuzuppeln, schaffte keine Abhilfe.
„Nein“, erwiderte er und grinste verlegen.
So schlimm schien er es nicht zu finden. Warum sollte er auch, wo doch die Mama dafür zuständig war, ihn zu waschen und sauber umzuziehen?
„Wenn ich mich doch wenigstens einen Abend lang bedienen lassen könnte, wo alle Handgriffe für mich erledigt werden würden. Was wäre das ein herrlich schöner Zustand“, träumte ich so vor mich hin. Manchmal wünschte ich mir meine Kinderzeit zurück.
Vor lauter Träumerei merkte ich beinahe nicht, wie wir auf einmal fertig waren, um uns auf den Heimweg zu machen.
„Na, los!“, gab ich das Signal, um aufzubrechen.
Wir wollten gerade durch die Außentür verschwinden, als ich jemanden nach mir rufen hörte: „Frau Schussel, warten Sie mal!“
Ich drehte mich um. Frau Knallmeier stand in einem pinken, kurzärmligen Kleid vor mir.
„Ja?“
„Es ist wohl so, dass ich scheinbar den besseren Draht zu Nicolas habe als Ben“, fing sie an zu erzählen. „Daher übernehme ich ihn nun als mein Bezugskind. Das wollte ich Ihnen gerne mitteilen.“
Dies war der Moment, der meinen Nico für den Rest seines Lebens beeinflussen sollte. Hätte Hanni das nicht gesagt, hätte ich an dieser Stelle nicht weiterschreiben brauchen. Und alles wäre so wenig verrückt geblieben, wie es ursprünglich mal war.
Allerdings überraschte mich die Auskunft nicht unbedingt, da Herr Bär weiterhin mit Bart rumlief. Frau Knallmeier war mir auf Anhieb sympathisch gewesen, und hätte sie in ihrem pinkfarbenen Kleid zusätzlich noch ein Bein angewinkelt, hätte sie fast einem Flamingo geähnelt. Ich mag Flamingos, weil sie farblich so schön auffallend sind.
Doch dass Hanni so verrückt war, wie sie sich optisch gar nicht hätte anziehen können, ahnte ich zum damaligen Zeitpunkt nicht mal annähernd.
„Ja, das ist doch gut“, erwiderte ich.
Ich freute mich, dass die Kitamitarbeiter so flexibel auf die individuellen Vorlieben des Kindes eingingen. Mein Nico war sehr gut aufgehoben.
„Heute hat Nicki mich zum Lachen gebracht“, fuhr seine neue Bezugsperson fort. „Wir waren vormittags draußen im Garten und da konnte ich beobachten, wie er vom Holzboot aus in hohem Bogen Sand geworfen hat.“
Sandwerfen im Kindergarten konnte aber eigentlich nichts Lustiges sein. Noch wartete ich auf die Pointe.
„Da hat er dann ganz laut „Kamelleeee, Kamelleeee!“ gerufen. Immer wieder. Ich meine, Karneval ist ja schon längst vorbei, aber für Nicki muss das als was Besonderes in Erinnerung geblieben sein“, erzählte sie mit verschmitzten Augen und fuhr fort: „Oder feiern Sie zu Hause regelmäßig Karneval nach und werfen mit Kamelle um sich?“
Bei mir im Kopf ratterte es durcheinander. „Womit werfen wir zu Hause? Welchen Ausruf verwenden wir normalerweise?“ Aber mir fiel nichts Passendes ein. Wir waren eben eine ganz gewöhnliche Durchschnittsfamilie. Jedenfalls konnte ich keinen Vergleich ziehen.
Bis hierhin wusste ich nicht, dass sich der Sand nicht nur zum Zweckentfremden für Kamelle werfen eignete, sondern auch gut als Ausrede diente, wenn er in die Hose gemacht hatte. Doch dazu später mehr.
„Das hat er sich selbst zuzuschreiben!“, betonte Frau Knallmeier kopfnickend.
„Sie sollten übrigens wissen, dass ‚m m‘ sein Hoppel heißen soll“, erwähnte ich kurz und zeigte auf sein grünes Hasen-Schmusetuch, das ein rot gepunktetes Ohr hatte. „Das ist für ihn sehr wichtig. Das nimmt er überall mit hin. Er sagt dazu bloß ‚m m‘.“
Dabei achtete ich darauf, den besonderen Laut aus Nicos verschlossenem Mund bestmöglich zu imitieren. Tierforscher hätten ihn möglicherweise als Balzruf bezeichnet. Nun machte ich diesen Balzruf nach. Frau Knallmeier sollte schließlich wissen, dass dieser überhaupt von Bedeutung war. Als ich darüber nachdachte, wie die Unterhaltung auf Außenstehende wirken könnte, musste ich beinahe loslachen. Frau Knallmeier musterte mich leicht irritiert.
„Hoppel“, wiederholte sie sachlich, um zu verdeutlichen, die Info zur Kenntnis genommen zu haben. „Tschüss Nicki, Tschüss Hoppel“, verabschiedete sie sich von ihrem und dessen Liebling.
***
Die Eingewöhnungsphase in der Kita galt als beendet. Mit Hoppel im Arm schlief Nicolas wie ein Murmeltier. Von dem Gewusel einiger Kinder im Kuschelraum bekam er nichts mit. Die Vorhänge waren schon zur Seite geschoben. Er hatte die Arme und Beine von sich gestreckt und lag auf einer dünnen Matratze. Mit einer seitlichen Drehung nach links wäre die Schlafmütze auf den harten Boden aufgekommen. Aber sicherlich hätte ihn auch der kurze Fall nicht aufgeweckt.
Ich beobachtete ihn einen Moment, wie er da so friedlich vor sich hinschlummerte. Es war ein rührender Anblick und ich fragte mich, ob Nicolas sich überhaupt freuen würde, mich schon zu sehen. Sanft streichelte ich seine Wange.
„Der schläft noch!“, informierte mich ein anderes Kind.
„Das sehe ich!“, war meine Antwort.
„Der hat einen sehr guten Schlaf!“, bewertete Frau Knallmeier die Sachlage. „Dass der nicht wach wird bei so viel Gewusel …“
„Das hat er von seinem Papa!“, entgegnete ich.
Langsam öffnete Nicolas ein Auge.
„Na, hast du gut geschlafen, Nicöchen?“, fragte ich meinen Schatz.
Er rieb sich die Augen und drückte Hoppel an sich.
„M m“, ertönte es.
„Kommst du mit Hoppel mit nach Hause?“
Er grinste mich an. Ich nahm ihn auf den Arm und trug ihn zu seinem Garderobenfach.
„Tschüüüü, bis morgen, Nicki!“, rief Frau Knallmeier ihm zu und winkte zur Verabschiedung.
Über meine Schulter gelehnt guckte er Hanni verschlafen hinterher, bis er sie nicht mehr sehen konnte. Längst war da was Besonderes zwischen Nicki und Hanni im Gange. Aber damit die Mama das mit ihrer langen Leitung merken würde, würden sie sich erst in Horst und Hermann umbenennen müssen.
Für den Moment interessierte mich nur, dass Nicolas gut aufgehoben war und gern in die Kita ging. Doch eigentlich hätte ich mir denken können, dass diese Friede-Freude-Eierkuchen-Welt nicht auf ewig so weitergehen würde. Mit den kommenden Wochen wendete sich das Blatt. Es war die Routine wie jeden Morgen, dass ich Nico in die Kita brachte und er dort den halben Tag blieb. Es gefiel ihm gut, doch er bekam auch mit, dass seine kleine Schwester jeden Morgen wieder mit nach Hause durfte. Er war doch selbst noch so klein. Nach einer plötzlichen Entthronung konnte sich so ein Kinderleben als Erstgeborener nur ungerecht anfühlen.
„Nein, will nikt in Kita!“, protestierte der kleine Nicolas mit Nachdruck.
Hilfesuchend klammerte er sich an meinen Beinen fest, als wir durch die Haupteingangstür in den Kindergarten liefen, oder besser gesagt humpelten. Beinahe wäre mir ein Gehstock nützlich gewesen.
Je näher wir der Schnattergruppe kamen, desto mehr schluchzte er. Ich setzte die noch kleinere Sophie auf den Boden ab, die sich prompt an dem Schuhregal hochzog. Neugierig schaute sie sich um. Durch die Glasscheibe der Schnattergruppentür konnte sie ein buntes Spielparadies mit Puppen und Anziehsachen, eine Verkleidungsecke und ganz viel Malpapier und Buntstifte erkennen, mit denen sich die anderen Kleinkinder beschäftigten. Zu Hause sah es langweiliger aus. Derweil hatte ich die Hände frei, um Nicolas auf den Arm zu nehmen. Es machte mich traurig, ihn so weinerlich zu sehen. Ich streichelte sein Köpfchen und drückte meine Wange an seine.
Frau Knallmeier erkannte von Weitem unsere Misere, dass Nicolas die Trennung ohne Hilfestellung nicht schaffen würde. Sie kam Richtung Tür auf uns zu.
„Guten Morgen, Nicki“, begrüßte sie ihr Bezugskind fröhlich. „Komm rein zu uns! Weißt du, was wir für heute Schönes geplant haben?“, fragte sie ihn verschwörerisch.
Sie trug einen grauen, weiten Pulli und nahm ihn auf ihren Arm entgegen, um die Kuscheleinheit zu übernehmen. Dann flüsterte sie ihm die Antwort ins Ohr. Die Mama brauchte schließlich nicht alles mitbekommen.
Angestrengt versuchte ich, den Wortlaut aufzuschnappen, aber ich verstand nicht mal einzelne Wortbrocken. Sowieso wurde ich nicht mehr gebraucht. Also schob ich nur die Standardfloskel hinterher: „Tschüss, mein Schatz, bis später!“
Dann wandte ich mich an Sophie: „Komm! Wir müssen zurück“, sagte ich und reichte ihr meine Hand.
Das Mädchen guckte mich entgeistert an, als wollte es mir sagen: „Mama, hier gehör ich hin. Geh du allein zurück! Ich will nicht wieder bei deinem Haushalt zugucken müssen.“
Da Sophie sich nicht rührte, nahm ich sie auf den Arm. Mit der rechten Hand öffnete ich die Zwischentür, die immer verschlossen blieb und die Klinke hoch oben angebracht hatte, sodass keine Kinderhand sie erreichen konnte. Während wir das Kita-Gebäude hinter uns ließen, fing sie an zu weinen.
„Bald, meine Süße, darfst du auch hier bleiben. Aber das dauert noch ein bisschen“, sprach ich mitfühlend auf sie ein.
Aus Sicht meiner beiden Kleinen hätte ein Kindertausch Sinn gemacht. Dann hätte niemand weinen müssen. Manchmal überkam mich das ungute Gefühl, dass ich einfach das falsche Kind in den Kindergarten brachte.
„Wie war es denn heute mit Nicolas?“, fragte ich Frau Knallmeier besorgt, als ich ihn am Nachmittag wieder abholen kam.
„Ach, soweit ganz gut. Für ihn war nur die Verabschiedung schwer, aber sobald Sie außer Sichtweite waren, hat er sich ganz schnell wieder beruhigt“, erzählte mir die Erzieherin.
Ich nickte und fühlte mich erleichtert. Dann ging ich auf Nicolas zu, der sein Puzzle noch fertig zusammensetzen wollte. Er hatte keine Eile.
„Hallo, mein Schatz“, grüßte ich ihn. „Na, machst du gerade ein Puzzle? Schaffst du das schon ganz allein?“, fragte ich mit gespieltem Erstaunen.
„Jaaa“, folgte die kurze Bestätigung.
„Was habt ihr denn heute Schönes gemacht?“, wollte ich zu gern wissen.
Ich bekam keine Antwort. Reden und puzzeln gleichzeitig funktionierte eben nicht. Oder aber er war sich mit Hanni einig, dass die Mama das sowieso nicht wissen brauchte.
„Komm, wir gehen jetzt nach Hause!“, forderte ich ihn auf, nachdem er das Puzzle ordnungsgemäß weggeräumt hatte.
Er trottete mir in den Flur hinterher, um sich auf das Schuhregal plumpsen zu lassen. Ich zog ihm die blauen Hausschuhe, die einen roten Hubschrauber angesteckt hatten, von den Füßen ab und half ihm, sich die Straßenschuhe anzuziehen. Es waren extra welche mit Klettverschluss, damit Nico sie allein anziehen konnte. Aber seine Bequemlichkeit siegte gegen meine Ungeduld.
„Achherrjeminee, warum bemühst du dich nicht selbst, du süßes Wesen, du?“, lauteten meine Gedankengänge.
Ich streichelte ihm das Köpfchen. Anschließend hielt ich ihm die Jacke hin, sodass er nur hineinzuschlüpfen brauchte. Ich hätte jedenfalls nicht gewusst, wie er es allein hätte hinkriegen sollen. Doch schon sehr bald würde mich das Kleinkind eines Besseren belehren.
***
Der Morgen begann mit einem leckeren Müsli-Frühstück. Die Kinder lachten. Und sie ärgerten sich, wie es sich für zwei Geschwister gehörte.
„Auaaa!“, schrie Sophie.
Sie protestierte gegen den absichtlichen Körperkontakt mit Nico, der im Vorbeigehen ihren Arm zu doll berührt hatte.
Ich verdrehte die Augen. Der Junge grinste sich einen.
„Gleich geht Nico in die Kita!“, sagte ich reflexartig.
Für mich klang meine Aussage vielversprechend: Ein Kind weniger, um das ich mich kümmern musste und welches das andere Kind nicht mehr ärgern konnte.
Doch leider hörte sich meine Aussage eher wie eine Bestrafung an. Das erkannte ich an seiner Reaktion: Er fing an zu weinen.
„Weißt du was? Auf dem Weg in die Kita zeige ich dir gleich mal die Automarken. Und du musst sie danach erraten.“
So ließ ich mir zur Aufheiterung sämtliche Spiele für unterwegs einfallen. Teilweise schafften wir es ohne Weinen aus der Haustür.
„Was machen die anderen eigentlich mit so kleinen Alles-Verweigerern?“ Insgeheim fragte ich mich, wie viele Mütter sich ebenso Spiele ausdenken mussten, um überhaupt vorwärtszukommen.
Jedenfalls kam meine Kreativität gut an. Nicolas prägte sich die verschiedenen Automarken ein und wiederholte sie.
„Schau mal da, siehst du den roten Ford?“, fragte ich ihn und zeigte auf das parkende Auto am Seitenrand. Allerdings flunkerte ich ihm eins vor.
„Nein, Opel“, verbesserte mich der Knirps.
„Toll, dass du das erkennst! Und welches Auto ist das?“, wollte ich als Nächstes wissen und zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo ein Toyota stand.
„Wei ni“, antwortete er und blickte ratlos drein.
„Ist das ein Toyota, ein Mazda oder ein Porsche?“, benannte ich drei Lösungsvorschläge.
„Toda.“
„Exakt. Ein Toyota. Hey, du bist gut!“, lobte ich ihn, während mir prompt ein Suchspiel einfiel: „Wer von uns findet als Erstes einen Mercedes?“
Wir schauten uns jedes einzelne Auto an. Einen Mercedes fanden wir nicht, dafür aber eine andere uns bekannte Automarke.
„Da, Kucki Oma Opa“, machte mich Nicolas auf einen schwarzen VW aufmerksam.
Zum Glück fügte er den familiären Verwandtschaftsgrad hinten an die Automarke. Sonst wäre ich wohl nie schlau daraus geworden, dass ‚Kucki‘ = ‚VW‘ heißen sollte.
„Ja, das ist ein VW. Oma und Opa fahren auch so einen, ne? Das weißt du.“
Nicht allein das Symbol war für ihn wichtig, sondern auch die Person, mit der er sie verbinden konnte.
Seine Aussprache war hundsmiserabel. Ich bezeichnete sie als Nicolasisch; die einzige Sprache, die auf der ganzen Welt nur von einer einzigen Person gesprochen wurde. Gleichzeitig machte ich mir Sorgen, welches Defizit dahintersteckte. Ich hätte nicht ahnen können, wie viele Nerven mir deshalb noch geraubt werden würden.
***
Eines weiteren Morgens schob ich den schluchzenden Nico im Buggy zur Kita. Um seine schlechte Laune in eine gute zu verwandeln, rannte ich ein kurzes Stück. Das zeigte Wirkung. Auf einmal fing er an zu strahlen. So einen Umschwung der Gefühle in Nullkommanix fand ich bemerkenswert, vor allem, wenn ich mir dessen Grund vor Augen führte.
„Maaar“, japste er vor Freude.
Ich interpretierte seinen Ausruf als irgendetwas zwischen „mehr“ und „nochmal“.
„Okay, immer wenn du mir einen Opel zeigst, renne ich ein kurzes Stück“, sagte ich.
Nicolas war hellauf begeistert und fing an zu zeigen: „Opel da. Opel da. Opel da“, ertönte es aus seinem Mund.
Dabei zeigte er mir einen Opel nach dem anderen. Ich kam aus dem Rennen nicht mehr raus und fragte mich, wo plötzlich die vielen Opel herkamen. Nicolas hatte Spaß ohne Ende, aber ich schon bald keine Puste mehr.
„Nein, nein, nein. So war das nicht gemeint!“, dachte ich mir, während ich noch ein kurzes Stück weiterrannte.
„Sag mal, was möchtest du heute Nachmittag denn gerne mal spielen?“, fragte ich schnell, bevor er den nächsten Opel entdecken würde.
Mit dieser Frage lenkte ich seine Gedanken auf etwas Anderes, bevor er sich wieder an unser Opel-Suchspiel erinnerte.
„Ata bei.“
„Ach, du willst wieder deine Autos parken?“, fragte ich außer Atem.
Anhand der Vokabelliste, die mein Mann über unseren Sohn führte, wusste ich inzwischen, was er mit diesem Satz meinte: Autos – parken. Ganz einfach.
Nicolas nickte freudig, dass ich ihn richtig verstanden hatte.
Tatsächlich half das Ablenkungsmanöver mir, Luft zu schnappen.
„Das kannst du doch ruhig machen“, ermunterte ich ihn und stellte ihm somit ein freudiges Ereignis im Anschluss an die Kita in Aussicht.
***
1-2-3 im Gleichschritt spazierten Nicolas und ich spielerisch zur Kita. Seine Laune verschlechterte sich plötzlich, als er vor der Schnattergruppe stand. Ich wusste nicht, warum. Er klammerte sich an mir fest, sodass ich nicht gehen konnte.
„Nein, bei mi balgen!“, bettelte er unter Tränen.
„Och, Mensch, Nicöchen“, sagte ich mitfühlend.
Was machte ich nur falsch? So aufgelöst wollte ich mich ungern verabschieden.
Doch hätte ich einmal nachgegeben und ihn wieder mit nach Hause genommen, hätte er gemerkt, dass er nur lang genug weinen musste, um nicht in der Kita abgeliefert zu werden.
Ich stöhnte kurz auf. So hatte ich mir die Ablieferung nicht vorgestellt. Wo war nur seine gute Laune hin, die ich zuvor so schön erarbeitet hatte?
Ich brauchte nicht lange warten, denn prompt kam Verstärkung von hinten.
„Guten Morgen, Nicki. Na, magst du mit reinkommen?“
Ich drehte mich um.
„Guten Morgen Frau ...“, fing ich an.
„Goldschatz“, ergänzte die blonde Erzieherin, die mit mir ungefähr gleichaltrig sein könnte.
„Ah, Frau Goldschatz. Guten Morgen“, fing ich die Begrüßung von vorn an.
Nicolas machte keine Anstalten, sich von meinen Armen zu lösen.
Frau Goldschatz öffnete ihre Arme. Die Einladung, weiterschmusen zu können, machte den Übergang für ihn leichter. Er wechselte die Arme und wurde sicher übernommen.
„Tschüss, bis später, mein Schatz“, rief ich ihm hinterher, aber insgeheim dachte ich: „Mensch, Mensch, Mensch, was für ein Theater morgens!“, und schüttelte den Kopf.
Wie gut, dass man vom Kopfschütteln kein Schleudertrauma kriegen würde. So manches Mal würde mir im Zusammensein mit meinen Kindern nicht allein vor lauter Glück schwindlig werden. Wie kam ich aus dem Kopfschüttel-Modus nur wieder heraus?
***
Ich sah Nicolas am Tisch sitzen, wie er intensiv an einem Krickelkrakel-Bild arbeitete. Ich schlich mich extra an, um ihn nicht zu stören. Nur so bekam ich meinen Sohn im Gruppengeschehen in Aktion mit. Von Heimweh war keine Spur. Als ich direkt hinter ihm stand, bemerkte ich einen strengen Geruch, der mich in meiner Nase unangenehm kitzelte. Ungefähr drei bis vier Kinder am selben Tisch hätten dafür schuldig gemacht werden können. Sie alle hatten das typische Windelalter. Natürlich lässt man bei fremden Kindern nicht sofort einen Kommentar ab, wenn der Stinker auch auf das eigene Kind zurückzuführen sein könnte. In solch ein Fettnäpfchen war ich bereits getreten, als Nicolas im Alter von fünf Monaten im Babybecken des Schwimmbads einen abgedrückt hatte.
Sodass jeder mich hören konnte, hatte ich laut gerufen: „Wer hat hier denn ins Wasser gekackt?“, nur um eine Minute später den Übeltäter als meinen Sohn ausfindig zu machen, während Freddy mir böse Blicke zuwarf und mich zurechtwies: „Nächstes Mal kontrollierst du aber zuerst deinen Sohn, bevor du so laut losbrüllst, ja?“
Als ich mich nun in der Kita an ihn rangeschlichen hatte, war ich schlauer als zuvor: „Boah, Nico, kann es sein, dass du gewickelt werden musst?“
Für kurz verzog ich meine Gesichtsmuskeln. Zu gut wusste ich, dass eine weich gefüllte Windel ihn am Popo gar nicht stören würde.
Nicolas reagierte nicht. Tatsächlich hatte ich eine freundliche Begrüßung vergessen.
„Hallo, Nico. Na, malst du gerade was Schönes?“, fing ich noch mal von vorn an.
„Ja.“
„Lass mal gucken, ob du gewickelt werden musst“, sagte ich. Dabei zuppelte ich an seiner Hose. Ich brauchte sie gar nicht ganz runterziehen, schon stand fest, dass er der Übeltäter war. Vielleicht nicht er allein. Aber er auf jeden Fall und nur das war mir wichtig.
„Komm, du musst gewickelt werden!“, ordnete ich an.
„Brauchst du eine neue Pampi?“, fragte Frau Knallmeier, die nun neben uns stand.
Ich nickte.
„Soll Mama dich wickeln oder ich?“, wollte sie wissen. Nico überlegte nicht lang: „Du.“
„Ja, dann mach ich das gerne“, sagte sie lächelnd.
Für mich war es schön, dieses Mal nicht wickeln zu müssen. Ich stand am Rand des Gruppenraumes und schaute den beiden zu.
„Meine“, hörte ich Nicolas sagen.
„Hast du etwa meine Nase geklaut?“, fragte Hanni. „Ich brauch die doch noch. Jetzt hol ich mir die aber wieder.“
Mit geknicktem Zeige- und Mittelfinger zog sie an seiner Nase. Die beiden lachten sich an.
„Der klaut mir immer meine Nase beim Wickeln“, beschwerte sich Frau Knallmeier und schaute mich mit spitzbübisch funkelnden Augen an. „Letztens musste ich ein ganzes Wochenende auf meine Nase verzichten.“ Dabei zog sie ihre Mundwinkel theatralisch nach unten.
„Nein, das geht ja nicht“, schmunzelte ich.
Nebenbei fiel mir der magnetische Wochenplaner auf, der auf Augenhöhe der kleinen Schnatterer an der quietschgrünen Wand hing. Ein schwarzer Pfeil war auf Mittwoch gestellt. Über dem Pfeil stand die Zahl 15. Noch wusste ich nicht, dass im Morgenkreis alle anwesenden Kinder durchgezählt wurden und die entsprechende Zahl gut leserlich am Planer dazu gehangen wurde. So konnte wohl kein Kind aus Versehen verloren gehen. Für den Donnerstag war die Turnstunde geplant und freitags war immer Eistag. Doch was war das? Seltsamerweise stand auf dem Schildchen für Dienstag: „Freie Spielzeugwahl“. Niemand hatte mich über dessen Bedeutung aufgeklärt. Also machte ich mir meine eigenen konfusen Gedanken dazu: „Freie Spielzeugwahl, und das nur einmal die Woche?“
Ich überlegte, was das für die anderen Tage bedeutete: „Da wurde ihnen doch nicht etwa ein bestimmtes Spiel vorgegeben? Den ganzen Tag lang? Und wenn sie das nicht spielen wollten? Was war dann? Und welches Kind spielt was? Ganz schön streng“, dachte ich nur. „Und ganz schön anstrengend, als Erzieher durchzublicken, wer gerade was spielen soll. Na, die Erzieher würden schon wissen, was sie taten.“
Jedenfalls würde das bei uns zu Hause in Diskussionen ausarten.
Schon bald stellte sich heraus, dass es einen einfachen Grund für die Dienstags-Regel gab und ich die Frau Schussel durch und durch war.
„Heute kannst du die Puppe nicht mitnehmen“, hörte ich eine Mutti zu ihrem Kind sagen. „Morgen ist erst wieder Spielzeugtag.“
Plötzlich wusste ich, dass es mit der Aufschrift auf dem Wochenplaner zusammenhing. Endlich hatte der Groschen das Ende meiner langen Leitung erreicht und fiel. Manchmal brauchte ich dafür die Unterstützung anderer Muttis.
Aber hätte man das Schildchen nicht einfach „Eigenes-Spielzeug-Mitbring-Tag“ nennen können? Doch irgendein Oberschlaumeier dachte sich: Frau Schussel hin oder her, in der Kürze liegt die Würze.
Nicolas interessierte sich weder für die Bezeichnung noch für deren Bedeutung. Da hätte auch sonst was stehen können. Auf keinen Fall durften die anderen Kinder seine Spielsachen in die Hand nehmen. Manchmal nahm er seine neuesten Besitztümer mit, um sie stolz zu präsentieren. Aber dann sollte ich sie wieder mit zurücknehmen. Einmal war es seine neue Bastelbox in Form eines Nähkästchens mit diversen Bastelmaterialien.
Nico stand mit mir an der Schnattergruppentür und schaute sich nach Hanni um. Ihre Kollegin Pia steuerte lächelnd auf uns zu. Sie trug ein geblümtes Top und eine schwarze Strickjacke. Ihr Blick fiel auf die Box, die er in Händen hielt.
„Hö, was hast du denn da?“, fragte sie erstaunt.
„Nico wollte doch so gerne zeigen, dass er eine Bastelbox geschenkt bekommen hat“, erklärte ich.
Ich fühlte mich in Erklärungszwang, da heute keine „freie Spielzeugwahl“ war.
„It die cool?“, wollte er wissen.
„Ja, die ist ja richtig cool“, bestätigte Frau Goldschatz, während sie die Box auseinanderzog, um sich den Inhalt anzuschauen. Dann ergänzte sie das Wichtigste: „Die Hanni ist leider noch nicht da. Aber wenn du willst, stellen wir sie in dein Fach und dann zeigst du sie ihr später, wenn sie kommt. Da wird sie bestimmt neidisch sein.“
Zwar war Nicos Plan, dass ich die Bastelbox wieder mit nach Hause nahm, aber Plan B gefiel ihm besser, weil er sie später noch Hanni zeigen konnte. In diesem Ausnahmefall behielt er sein Vorzeigeobjekt in der Kita. An sein Fach würde so schnell kein anderes Kind drangehen.
Bevor ich kehrt machte, sagte Frau Goldschatz zu mir: „Da haben Sie ja genau das Richtige für ihn ausgesucht, wo Nicolas so gerne bastelt.“
„Ja, oder?“, gab ich zurück und trat zufrieden den Heimweg an.
In einem von hundert Fällen machte ich als Mama eben auch was richtig. Nur zu gut kannte ich das Gefühl, dass meine mütterliche Fürsorge keine direkten Früchte trug. Da drückte dann der Fahrradhelm, das Gemüse war zu grün, das Bett wartete zu früh auf den Besitzer, die Windel hätte noch viel mehr aufsaugen können und der Fernseher ging immer zu früh aus. Mutter zu sein war nicht gerade der dankbarste Job. Kurz rollte ich die Augen. Innerlich drückte ich eine Träne weg.
So schweiften meine Gedanken hierhin und dorthin, bis Nicki fertig gewickelt vor mir stand.
„Bist du wieder sauber?“, fragte ich ihn. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr ich direkt fort: „Hast du mit Hanni die Nase getauscht?“
„Ja“, antwortete die Grinsebacke strahlend.
„Und dann tauscht ihr morgen zurück?“
Dessen war er sich nicht sicher. Er flüchtete an mir vorbei und rannte den Flur entlang.
„Nico, komm her zu mir. Du musst noch deine Schuhe anziehen! Niiiiico!“, rief ich laut.
Er verschwand um die Ecke und durch die Tür zur Turnhalle. Nach Hause wollte er nicht.
„Warum machen Kinder eigentlich immer das Gegenteil von dem, was man von ihnen verlangt?“, schoss es mir durch den Kopf.
Hätte ich vielleicht lieber rufen sollen: „Nico, wirbel bitte zuallererst noch durch die ganze Kita, versteck dich in der Turnhalle, zieh dir bloß nicht deine Schuhe an und nach Hause gehen darfst du vorerst nicht?“
Aber ich war ja nicht bescheuert. Möglicherweise hätten die Erzieher mich in die Anstalt gesteckt, wenn das einer von ihnen mitbekommen hätte.
„Boah“, stöhnte ich kurz, weil mir keine Lösung einfiel.
Stöhnen war immerhin erlaubt. Da hatte ich nichts weiter zu befürchten.
Dann machte ich mich bereit für das Einfangen-Spiel und erblickte ihn am Klettergerüst an der Wand.
„Okay, darunter liegen weiche Matten. Da kann nichts passieren, wenn er abstürzt“, beruhigte ich mich. „Für Schimpfe ist genau jetzt der falsche Moment.“
„Nico, komm runter da. Wir gehen jetzt nach Hause. Gleich können wir noch Kekse essen.“
Wenn nichts mehr half, musste eben eine kleine Bestechung her.
„Ja, ja, Kea“, freute er sich, sprang auf die Matte ab und entwischte mir erneut.
Diesmal rannte er zurück zur Schnattergruppe.
„Gut, jetzt noch Schuhe an die Füße“, knüpfte ich da an, wo wir stehengeblieben waren.
Er stand lachend vor mir, aber hatte gar nicht vor, sich seine Schuhe anzuziehen. Warum auch?
„Setz dich da mal hin, dann zieh ich dir die Schuhe an!“, versuchte ich zum Ende zu kommen.
Nicolas wollte nicht so wie ich. Von Hinsetzen hatte er noch nie etwas gehört. Sein Bewegungsdrang war zu stark. Seine Arme und Beine zappelten, sodass ich keine Sandale an seinem Fuß hätte befestigen können.
Ich merkte, wie mein Puls hochschnellte. Mit tiefen Atemzügen allein war es nicht mehr getan.
„Na gut, dann musst du hierbleiben. Ich geh jetzt“, sagte ich trotzig, bevor noch ein Donnerwetter passierte. Innerlich tobte ich.
Vielleicht wäre es nicht mal eine Bestrafung gewesen, hätte er in der Kita bleiben sollen, doch Hanni war gerade nicht in Sicht. Also folgte er mir widerwillig und ließ sich die Sandalen an die Füße ziehen. Anschließend schob ich ihn durch die Tür und wir liefen nach Hause. Der Schweiß stand mir auf der Stirn. Eindeutig hatte ich es mit einem selbstständigen Individuum zu tun, dessen Gehirn sich mitten in der Autonomie-Phase befand: Lieber selbst bestimmen und gegen alles sein, was die Mama sagt.